Das Wunder

  • Von Moritz


    für Sebastian, der endlich wieder lachen kann...


    Es ist Heiligabend und die wenigen Menschen, die wir auf der Straße sehen können, eilen mit ihren letzten Weihnachtseinkäufen nach Hause.
    Schauen wir einmal genauer hin und beobachten diese Weihnachtlich geschmückte Straße.
    Unter den eilenden Menschen fällt uns ein Mann auf, dessen Schritte plötzlich sehr langsam werden. Taumelnd gerät er ins Stolpern und wir sehen, wie er sich nur mühsam zu einer Bushaltestelle schleppen kann.
    Langsam sinkt er dort auf einer kalten Sitzbank nieder.
    Der Atem des Mannes geht schwer und verzweifelt versucht er sich bemerkbar zu machen.
    Doch er ist schon zu schwach um nach Hilfe zu rufen. Zu schwach, um seine Arme zu heben, damit jemand auf ihn aufmerksam wird.
    Niemand der vorbei huschenden Menschen bemerkt, dass der Mann Hilfe braucht.
    Zu sehr sind alle mit sich und dem bevorstehenden Weihnachtfest beschäftigt.
    Einige, und das sind nicht wenige, halten ihn sogar für einen Obdachlosen Trinker.
    Aber das ist er nicht.
    Wir würden sofort helfen, wenn wir könnten. Doch leider sind wir nicht wirklich dort, sondern nur heimliche Beobachter des Geschehens. Deshalb können wir nur stumm zusehen was weiter geschehen wird.
    Doch verlassen wir für einen kurzen Augenblick die Bushaltestelle und schauen ein Stück weiter die Straße hinunter.
    Vor einem großen Gebäude steht ein riesiger geschmückter Weihnachtsbaum, an dem unzählige Kerzen die dunkle Umgebung in ein wärmendes Licht hüllt.
    Nicht weit hinter diesem Baum führt eine breite Treppe zu dem Gebäude hinauf und wir können sehen, wie sich jetzt langsam eine Gestalt die Stufen hinunter bewegt.
    Wir gehen näher heran und erkennen eine Frau, deren Gesichtszüge verkrampft wirken.
    Ihre Augen sind gerötet. Stumm laufen Tränen der Verzweiflung über ihre eingefallenen Wangen.
    Am Ende der Treppe dreht sie sich noch einmal zu dem Gebäude herum.
    Wir folgen ihren Blicken und erkennen jetzt, dass dieses Gebäude ein Krankenhaus ist.
    Wir können sehen, dass die Frau ihre Lippen bewegt. Es sieht aus als ob sie mit jemand spricht, doch niemand sonst steht am Fuße der Treppe. Sie ist alleine.
    Neugierig gehen wir näher heran und dann hören wir wie die Frau leise sagt: „Bitte lieber Gott, lass ihn nicht sterben. – Er ist doch noch so jung, viel zu jung.“
    Mehr sagt sie nicht.
    Aber wir wissen jetzt, das die Frau traurig und verzweifelt ist. Denn in dem Krankenhaus liegt ihr Kind und wie es aussieht wird es sterben müssen.
    Aber warum?
    Wir wissen es noch nicht.
    Eigentlich will die Frau jetzt wieder hinein gehen, hinauf auf die Station, auf der ihr Junge um sein Leben kämpft.
    Sie steigt auch ein paar Stufen hinauf, doch plötzlich zögert sie. Sie hebt den Kopf und dreht sich um. Es sieht so aus, als habe irgendjemand nach ihr gerufen.
    Doch wir hören und sehen niemanden.
    Jetzt setzt sich die Frau in Bewegung. Sie läuft in die Richtung, aus der wir eben gekommen sind.
    Ihre Schritte werden schneller und wir ahnen schon, wo hin sie laufen wird.
    Nur wenig später steht sie vor der Bushaltestelle und sieht den Mann, der inzwischen leblos in sich zusammen gesunken ist.
    Beherzt greift die Frau nach den Schultern des Mannes und spricht ihn an. Doch dieser reagiert nicht mehr. Wir hören jetzt die Frau nach Hilfe schreien und dann geht alles sehr schnell.


    Du denkst jetzt sicher, dass dies schon ein Wunder gewesen ist?
    Ich muss dich leider enttäuschen. Es ist nur der Anfang zu dem Wunder, zu dem ich dich noch führen werde.
    Lass uns also sehen, wie die Geschichte weiter geht. Ich bin sicher, dass du mir jetzt bis zum Schluss folgen wirst. Habe ich recht?


    Wir sind noch immer an der Bushaltestelle und beobachten nun, wie aus dem Krankenhaus Ärzte heraus eilen und sich hektisch um den Mann kümmern. Eilig wird er in das Krankenhaus abtransportiert und wir spüren, dass es nicht sehr gut für ihn aussieht.
    Auch die Frau macht sich auf den Weg. Langsam geht sie mit hängenden Schultern zum Krankenhaus zurück. Wir begleiten sie hinein.
    Im Eingangsbereich steht ein kleinerer Weihnachtsbaum, aufgestellt für jene, die dieses Jahr das Weihnachtsfest nicht zu Hause verbringen können.
    Die Frau senkt ihren Blick und läuft hastig an den Baum vorbei. Wir können ihre Gedanken nur erahnen und glauben zu wissen, woran sie bei dem Anblick des Baumes denken muss.
    Inzwischen fahren wir mit einem Aufzug einige Stockwerke nach oben und folgen dann der Frau durch etliche Gänge. Sie scheint sich gut auszukennen und man merkt, dass sie diesen Weg schon oft gegangen ist.
    Schließlich bleibt sie vor einer großen Glastür stehen.
    Intensivstation. - Das lesen wir auf einem beleuchteten Schild über dieser Türe.
    Zögernd drückt die Frau auf einen Klingelknopf und schaut dann kurz hinauf in die Kamera, die dort angebracht ist. Ein summen ertönt und die Tür öffnet sich.
    Gleich links sitzen in einer Nische zwei Krankenschwestern an großen Schreibtischen. An den Wänden darüber hängen einige Monitore auf denen wir unschwer Überwachungsgrafiken erkennen können. Aus unsichtbarem Lautsprechen hören wir ein stetiges piepen und summen.
    Und dann lauschen wir dem kurzen Gespräch, das die Frau mit den Krankenschwestern führt.


    „Wie geht es meinem Sohn?“
    Die angesprochene Schwester sieht kurz über die Monitore und sagt dann: „Er ist unverändert Stabil.“
    „Und die Liste? An welcher Stelle steht mein Sebastian?“ fragt die Frau jetzt etwas ungeduldig.
    Die andere Schwester tippt etwas in ihren Computer und sagt dann mitfühlend: „Er steht jetzt an erster Stelle. Das bedeutet, das die erste Spenderniere die gefunden wird und passt für ihren Sohn reserviert ist!“
    Der Frau wird schwindelig und sofort greift ihr die Schwester unter die Arme um sie zu stützen. Dabei sagt sie: „Es ist besser sie legen sich jetzt erst einmal hin und schlafen etwas."
    Dabei führt sie die verzweifelte Frau, die jetzt leise zu weinen begonnen hat den Flur herunter und verschwindet dann mit ihr in einem Besucherraum für Angehörige.


    Nicht weit von den Krankenschwestern entfernt befindet sich ein großes Fenster.
    Wir treten heran und sehen in einen abgedunkelten Raum hinein.
    Auf einem Bett liegt ein Junge, den man kaum erkennen kann. Es ist Sebastian.
    Sein kleines Gesicht wird von einer Atemmaske verdeckt und aus seinen Armen führen Schläuche zu Maschinen, die um das Bett herum aufgestellt sind.
    Die Augen von Sebastian sind geschlossen und wir ahnen, dass das Leben des Jungen von diesen Maschinen abhängig ist.
    Der Anblick ist nur schwer zu ertragen.


    Da klingelt hinter uns ein Telefon. Einer der Krankenschwestern hebt ab und dann wird es hektisch. Plötzlich wimmelt es auf der Station von Ärzten und Krankenschwestern.
    Auf uns wirkt es Chaotisch doch jeder der Anwesenden Menschen weiß genau was er zu tun hat.
    Wir sehen, wie Sebastian mit seinem Bett und den Apparaturen eilig zu einem Fahrstuhl gefahren wird und darin verschwindet.
    Keine 5 Minuten später wird es wieder ruhig auf der Station. Zurück bleiben nur die beiden Krankenschwestern, die sich Aufgeregt unterhalten.


    Aber wo bleibt jetzt das Wunder? Das erfahren wir erst am nächsten Tag.
    Erinnerst du dich noch an den Mann von der Bushaltestelle?
    Dieser Mann konnte von den Ärzten leider nicht mehr gerettet werden. Und doch ist es diesem Mann zu verdanken, dass Sebastians Leben gerettet werden konnte. Der Mann hatte nämlich einen Organspenderausweis bei sich.
    Bei den anschließenden Untersuchungen stellte sich heraus, das die Nieren des Mannes tatsächlich alle Bedingungen erfüllte, die notwendig waren, um eine davon Sebastian zu spenden.
    Die sofort eingeleitete Operation, in der eine Niere des Mannes in Sebastian transplantiert wurde, verlief sehr erfolgreich.


    Jetzt, ein Jahr danach ist es wieder Weihnachten. Wieder sind die Straßen Weihnachtlich geschmückt.
    Lass uns doch noch einmal an die Bushaltestelle zurück kehren, an der unsere Geschichte begonnen hat.
    Aus der Ferne betrachtet ist nichts Außergewöhnliches zu sehen, doch als wir näher kommen, sehen wir die Frau wieder.
    Sie sitzt auf der Bank, genau dort, wo vor einem Jahr der Mann gesessen hat.
    Diesmal ist die Frau nicht alleine, denn neben ihr sitzt ein 11 Jähriger Junge. Es ist Sebastian.
    Beide stehen auf und verschwinden lachend in den dunklen Dezemberabend.
    Zurück bleiben eine Bushaltestelle und eine Sitzbank, auf der jemand mit krakeliger Schrift ein Wort hinein geritzt hat.
    Und dieses Wort heißt DANKE.


    © by Moritz

  • Ich habe echt beim lesen die Tränen in den Augen gehabt.


    Sag mal ,habe ich das richtig verstanden das die Geschichte wahr ist?
    Den dann ist es echt ein Wunder.

  • ;(;(;(



    wunderschön leider gibt es immer noch zu wenige die den mut haben einen Organspendeausweis zu haben..


    grüße Brigita

  • Hallo Moritz. :)
    Ohne dir viell. zu nahe treten zu wollen... hast du das erlebt?
    Mir kamen die Tränen und ich wusste, wie die Geschichte weiter geht.... sie hat mich tief bewegt.
    Ich bin auch Organspenderin....
    LG Phoenix :andreah

  • Danke @ all


    Meine Geschichte basiert tatsächlich auf einer wahren Begebenheit, die allerdings schon etwas zurück liegt.
    Entstanden ist „Das Wunder “ erst im November 2010 und wurde dann als etwas andere Weihnachtsgeschichte erstmals auf der „Geschichten Seite “ von stopkids.de veröffentlicht.


    LG Moritz

  • Eine bewegende Geschichte ;( und ich finde sie wichtig und gut!
    Ich betrachte sie immer mit dem "lachenden" und "weinden" Auge.......



    Ich selber habe nun 2 mal Menschen geholfen die auf der Straße "liegen" blieben einmal mitten im vollen Bus (NIEMAND tat etwas nichtmal der Busfahrer) einmal vor einem voll besetzen Cafe....... :hmm: :nono: das hatte mich sehr erschrocken was Menschen so tun oder bzw NICHT tun!
    Beiden Herrschaften konnte noch geholfen werden!


    Mein Papa half vor 25 Jahren seinem Freund und wir denken immer hätten wir es mal nicht getan :S .......sie spielten aktiv Fußball, Halbzeit in der Manschaftskabine.....ein Spieler kippt von der Bank.......mein Vater und ein Kamerad beleben in wieder, leisten erste Hilfe etc, der Notarzt kommt.......er lebt, seit 25 Jahren im Wachkoma, er hat keinerlei Hirnaktivität mehr, keinerlei Interaktion mit seiner Umwelt, eine Magensonde, trägt Windeln.....doch seit Herz ist stark und wir noch lange schlagen...........seine Tochter meine Freundin starb mit 15 an Krebs! Seine Frau besucht Ihn jeden Tag und dann das Grab ihrer Tochter.........


    Mein Leben beschäftigte sich leider Privat sowie auch beruflich viel mit dem Sterben und es hat immer 2 Seiten! Ich bin dem Tod nicht Feind doch ich winke ihm auch lieber aus der Ferne! Doch werden und vergehen sind untrennbar!


    Ich weiss zwar nicht ob man gesundheitlich von meinen "Ersatzteilen" je noch was wird brauchen können aber ich habe auch einen Organspendeausweiß und auch der Rest gehört komplett der Uni Münster und der Forschung!


    lg grini :cat:

  • Wow, die Geschichte ist wirklich ein Wunder! Ich habe noch nie darüber nachgedacht, vielleicht sollte ich mir auch einen Organspender-Ausweis zulegen.


    Warum auf der Straße liegenden Menschen oft nicht geholfen wird, hab' ich mich auch schon oft gefragt. Ich hab' dann mal zufällig in einem Psychologie-Buch gelesen, dass dies leider im Menschen "instinktiv" drin ist. Sie denken (unterbewusst): "Da sind so viele Menschen. Wenn der wirklich Hilfe brauchen würde, hätte doch schon längst jemand geholfen".


    Bitte nicht falsch verstehen, ich will dieses Verhalten auf keinen Fall entschuldigen!! Aber vielleicht hilft es, zu verstehen, dass Menschen nicht aus reiner Bosheit so handeln. Umso wichtiger, dass es Leute gibt, die sich hier nicht täuschen lassen und helfen! :thumbup: